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LEBEN AM WATTENMEER

Es tobt ein Sturm, vor dem schon seit einigen Tagen gewarnt wird. In der Wohnküche rattert und knackt, rauscht und pfeift es im Lüftungsrohr der Dunstabzugshaube. Der Regen klatscht an die Fenster. Es ist düster, obwohl Vollmond ist. Windstärke acht, neun, aus Südwest kommend. Das eigentliche Problem sind die Orkanböen – zwischen 100 und 130 Stundenkilometern sollen es sein. Der Schiffsverkehr zu den Inseln wurde eingestellt. Der erste Sturm in diesem Jahr. Der erste, seit wir hier leben. Hinterm Deich. Achtern Diek, wie es auf Plattdeutsch heißt.

Der Deich trennt und schützt uns sogleich vorm Meer. 38 Stufen geht es hinauf zur Deichkrone mit einem Blick aufs Wattenmeer, der jeden Tag für Überraschungen sorgt. Manchmal sind Juist und Norderney zu sehen. Manchmal verschluckt sie der Nebel. Es gibt Abende, da leuchten unzählige Sterne und dann wieder vollkommene Dunkelheit, die weniger unheimlich durch die im Wattenmeer lebenden Vögel wirkt – lautmalerischer können nächtliche Spaziergänge nicht sein. Und natürlich die Sonnenuntergänge am Meer: immer großes Kino. Innehalten und schauen, richtig tief einatmen, spätestens nach dem Farbenrausch am Horizont die Augen schließen, den Vögeln zuhören. Leben am Wattenmeer.

 

Wir wohnen in einer ehemaligen Ferienwohnung umgeben von Ferienwohnungen. Vor dem großen Sturm war es gefühlt wochenlang windstill. Keine rollenden Koffer, keine laufenden Motoren. Heruntergelassene Rollläden an fast jedem Haus. Die Zeit, in der der Ort sich gehört, ist kurz geworden. Hier wird von den Besuchern gelebt. Nicht mit ihnen. Wenn keine Saison ist, hat der Bäcker um die Ecke zu. Die meisten Restaurants auch. Die wenigen Menschen, die direkt hinterm Deich leben, sind dann für sich.

 

Als wir herzogen, wussten wir nicht, auf was wir uns einlassen. Hauptsache Meer. Auch wenn es nicht immer da ist. So wie Festnetz und Internetzugang. Beides keine Selbstverständlichkeit und der einstige Zugang ins Netz für Feriengäste nicht unbedingt zuverlässig und doch die einzige Möglichkeit für Mieter WLAN zu haben. Auch für eine Waschmaschine gibt es keinen Anschluss. Fünfzig Cent Stücke werden nun für die Gemeinschaftsmaschine gesammelt. Meist stimmen Maschine und Automat nicht überein und eine Münze sollte immer vorrätig sein – wer keine mehr hat, kommt nicht mehr an seine Wäsche. Das nervt im Alltag. Gleichzeitig ist der Alltag in einer Feriensiedlung aber auch ziemlich erholsam. Wenn was los ist, sind alle gut drauf. Wenn Nebensaison ist: Stille.

 

Vor unserem Balkon ist eine kleine Streuobstwiese. Als wir die Wohnung auf der Seite des Maklers sahen, war das der erste fette Pluspunkt. Und das es eine Maisonette-Wohnung ist. Mit zwei Bädern, Wohnküche und Gästezimmer. Alles auf gerade einmal 63 Quadratmetern. Wie kann das gehen? Winzige Räume? Wir bezogen die Wohnung ohne sie zu besichtigen. Wir wohnten damals schon auf Hiddensee. Was für länger gedacht war, als Fernbeziehung zwischen Nord- und Ostsee, kam zum Glück ganz anders. Doch als es um die Wohnung in Ostfriesland ging, kamen wir nicht von der Ostseeinsel weg. Den Besichtigungstermin übernahm meine Mama, wie so vieles, um uns das Ankommen in den eigenen vier Wänden so schön wie nur möglich zu machen.

 

Von außen hatten wir unsere ostfriesische Wohnung zuvor gesehen: Roter Backstein, Parkplatz direkt vor der Tür. Pflastersteine bis ans Haus. Wie das so ist in Ostfriesland. Dann die Streuobstwiese hinterm Haus, wenige Schritte zum Deich, bezahlbare Miete im gewünschten Ort. Fotos der Wohnung gab es auf der Seite des Maklers: roséfarben gestrichene Wände; Blümchentapete. Wir wollten die Wohnung unbedingt. Es gab noch einen Interessenten, der sogar die Möbel übernommen hätte. Wir bibberten etwas und waren so erleichtertet, als wir die Zusage bekamen. Einen Eimer Farbe brachten wir beim Einzug mit.

 

An den vielen Platz mussten wir uns erst gewöhnen. Zuvor wohnten wir zusammen auf 43 Quadratmetern. Gleichzeitig war es gar nicht so einfach, die einstige Ferienwohnung einzurichten – obwohl es nun 20 Quadratmeter mehr sind und die Zimmer eine gute Größe haben. Stauraum gibt es nicht und durch die vielen Schrägen, die das Wohnen sehr gemütlich machen, wenig Stellplatz. Staubsauger, Wäscheständer, Bügelbrett braucht man ja schon in der Wohnung, aber wer will das andauernd sehen? Inzwischen hat sich für alles ein Platz gefunden und unser kleiner Verschlag in der Waschküche ist bis fast zur Decke vollgestellt.

 

Was wir in an unserer Wohnung sehr mögen, ist der Blick in den Himmel und in die Weite. Wolkenspiel, Vogelzug, Sternschnuppen – die Natur zeigt sich von ihrer liebenswertesten Seite. Ab und zu werden wir morgens vom Hahn geweckt, manchmal ist es auch eine Taube. Liebgewonnen haben wir die Deichspaziergänge, die mit einem Abstecher zum Italiener auf dem Campingplatz verbunden werden oder vorbei an einem Bauernhofcafé. Oft laufen wir aber auch nur mal so die 38 Stufen den Deich hinauf, lassen uns vom Wind beeindrucken und genießen den Blick aufs Wattenmeer.

 

Manchmal ist es grau in grau, dann wieder sehr samtig lieblich pastellig oder dramatisch farbenfroh. So taucht die untergehende Sonne schon mal das niederländische Kohlekraftwerk, den Rauch der Schornsteine und einige Windräder in ein leuchtendes unwirkliches Licht, als wäre ein Scheinwerfer auf die Anlage in 30 Kilometer Entfernung Luftlinie gerichtet. Wolkenberge türmen sich über der ruhigen See, blau, lila, glühend der Himmel. Im Osten bedrohliche Dunkelheit. Am nächsten Tag ist alles ganz anders. Und so ist das jeden Tag.


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